Eine bessere Welt | 10.10.2004 terrorverlag.de

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von tocafi

Ort: Münster – Petri Kirche

Datum: 10.10.2004

Wir haben auf diesen Seiten so viel ausschweifenden Rock n Roll und eiskalten Industrial besprochen, dass ein Gang in die Kirche mehr als überfällig war. Nicht zur Beichte indes, sondern zu einem Konzert von zwei der derzeit aufregendsten Künstlerinnen aus den Bereichen Experiment und Mittelalterpflege – und das ist weder Schreibfehler, noch Widerspruch! Tatsächlich ist Dorothee Oberlingers Tagesgeschäft eher das Ausloten historischer Untiefen auf ihre aktuelle Bedeutung, während Dorothee Hahne im Grenzbereich zwischen „Neuer Musik“ und emotionaler Elektronik operiert. Akademisch genug, um bei den Entscheidungsträgern in ländlichen Kulturgremien mit zwei Zeilen langen Titeln die benötigten Fördergelder zu erschmeicheln und dabei von einer erfrischenden Direktheit. Auf ihrem Gebiet sind die beiden D-Damen nicht nur Weltspitze, sondern auch begabte Mittelsfrauen: Dorothee Oberlingers CD „Peripheries“ wird zwar im wesentlichen ein klassisches Publikum ansprechen, könnte aber auch jedem gefallen, der nach einem CORVUS CORAX-Gig ein wenig Entspannung sucht. Und das heute Abend aufgeführte „commentari“ für Blockflöte, Didgeridoo und Live-Elektronik mag man sich sehr gerne in der Chill-Out Area einer Goa-Party vorstellen.

Den intendierten Brückenschlag spiegelt auch das Publikum wieder, in dem von ganz jung bis ganz alt alles vertreten ist. Dennoch dürfte feststehen, dass eine ganze Menge mehr Leute hier ihre Freude gehabt hätten: Noch vor zwei Tagen spielten DAVID BRADY und J. FREDE im Cuba (siehe Bericht) und das einleitende „Speciosa“ wäre in ihrem Set keineswegs aus dem Rahmen gefallen: Die durch den Sampler gedrehten Domglocken aus Köln schleifen und mahlen wie rostige Röhren über Sandsteinboden und ziehen Schlieren aus Hall und Raum hinter sich her – das ist keine abgedrehte Avantgarde, sondern abgefahrener Ambient! Für diese Stück sitzt Hahne noch alleine hinter ihrem bescheidenen PC- und Mischpultkonstrukt, doch bei „O ecclesia“ von Hildegard von Bingen gesellt sich auch Dorothee Oberlinger dazu. Der Opener von „Peripheries“ ist auch live ein absolutes Glanzstück und zeigt noch einmal eindrucksvoll, woher die Pioniere der Berliner Schule wie TANGERINE DREAM oder KLAUS SCHULZE ihre Inspiration bezogen. Das Didgeridoo legt einen düsteren Teppich, über den sich die orientalisch geschwungenen Linien der Altblockflöte erheben und in alle Winkel des Gotteshauses entschweben. Gespenstisch: Ein weißer Stofffetzen weht einsam im Zugwind vor in Stein gehauenen Figuren. Dann erst „commentari“, ein Konzert in vier Teilen. Auch hier kannte man schon Ausschnitte von der Solo-CD, nämlich das rhythmisch beinahe glitschige „commentari I“ und den beschwingten dritten Satz, in dem die Kölnerin gegen live-manipulierte Extrakte ihrer eigenen Noten anspielt. Doch der Höhepunkt ist der zweite Abschnitt, für den sich Dorothee Oberlinger hinter eine Subbassblockflöte stellt, welche in etwa die Form eines Schlagbaums besitzt und deren Klappen so gewaltig sind, dass man darauf Dino’s extra große Thunfischpizza servieren könnte. Das Grollen der Flöte wandert wie ein durch den Raum kullernder Ball von einem der quadrophonisch aufgestellten Lautsprecher zum nächsten und wieder zurück, ehe sich die Klänge zu einem hohen Zischen verdichten, das minutenlang wie die verirrte HiHat eines Drum n Bass-Tracks durch die Kirche wandert.

Danach stehen die Dorothees noch ausgiebig fragelustigen Umstehenden Rede und Antwort. Leider muss ich bereits den Heimweg antreten, durch das inzwischen nachtdunkle Münster, vorbei an geschlossenen Ladenlokalen und bereits gefüllten Kneipen. Es ist kalt und die Stadt hat gerade Berthold Tillmann im Amt als Bürgermeister bestätigt. Doch für eine Stunde war es drinnen in der Petrikirche eine bessere Welt.

Quelle: Terrorverlag 2004

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